Liberalisierung des Bahnsektors bedeutet auch ein Modell, in dem Leistungen wie der Erhalt des Schienennetzes und der Betrieb der Bahnverbindungen selbst getrennt werden. Diese Trennung führt allerdings in die wirtschaftliche und verkehrsplanerische Irre, schreibt Tim Engartner, Professor für Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln.
Fehlende Waggons, ausgedünnte Fahrpläne und verwahrloste Bahnhöfe stoßen Reisenden der Deutschen Bahn (DB) AG ebenso auf wie unpünktliche Züge. Jeder zweite Fernverkehrszug war im November 2023 verspätet. So unpünktlich waren die IC- und ICE-Züge des bundeseigenen Konzerns seit acht Jahren nicht mehr, und das, obwohl ausfallende Verbindungen durch die Pünktlichkeitsstatistik gar nicht erst erfasst werden. Geschuldet sind die Verspätungen laut Aussage des DB-Vorstands insbesondere dem „kurzfristigen Baugeschehen“. Rund 75 Prozent der Fernverkehrszüge seien durch mindestens eine Baustelle ausgebremst worden.
Immerhin hat sich die amtierende Bundesregierung darauf geeinigt, mehr Geld in die maroden Schienenwege zu investieren. Diese Mittel sollen der Erreichung ambitionierter Ziele dienen, heißt es doch im Koalitionsvertrag der „Ampel“-Regierung: „Wir werden den Masterplan Schienenverkehr weiterentwickeln und zügiger umsetzen, den Schienengüterverkehr bis 2030 auf 25 Prozent steigern und die Verkehrsleistung im Personenverkehr verdoppeln.“
Derzeit aber hinkt Deutschland bei den Pro-Kopf-Investitionen in die Schieneninfrastruktur auch im europäischen Vergleich weit hinterher. Lediglich 114,- Euro pro Kopf, und damit weniger als im Vorjahr, hat der Bund im vergangenen Jahr für seine Schieneninfrastruktur ausgegeben, während die Investitionssummen in den meisten anderen Ländern gestiegen sind. Dabei sind sich – von einer unrühmlichen parlamentarischen Vertretung abgesehen – alle im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien einig, dass die Verkehrswende nur mit einer Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene gelingen kann.
Schmerzliche Trennung
Tiefgreifende politische Maßnahmen lassen jedoch auf sich warten, zumal die Hoffnung auf substanzielle Verbesserung durch die auch von europäischer Ebene angestoßene Debatte über die Trennung von Netz und Betrieb getrübt wird, die auf die neoliberale Wettbewerbsorientierung vertraut. Spätestens seit dem im Sommer 2021 veröffentlichten Positionspapier, in dem u. a. der Fahrgastverband PRO BAHN, die Lokführergewerkschaft GDL und die Verbraucherzentrale Bundesverband für eine Aufspaltung der DB AG in zwei unabhängige Unternehmen plädieren, wird das Thema wieder intensiv diskutiert. Dass sich die Monopolkommission als „Hüterin“ des Wettbewerbs dieser Position im Glauben an dessen belebende Kraft angeschlossen hat, verwundert nicht.
Dabei sind die Argumente für eine Beibehaltung des integrierten Konzerns ebenso vielschichtig wie überzeugend. Aktuell verweisen sowohl das Aktionsbündnis Bahn für Alle als auch die Eisenbahnergewerkschaft EVG auf die widerstreitenden Interessen eines „reinen“ Netzbetreibers und „reinen“ Verkehrsunternehmens. Neben der Fragmentierung des komplexen Schienenverkehrssystems werden weitere entscheidende Gründe übersehen, die gegen eine Gewinn- oder gar Kapitalmarktorientierung der auf dem Schienenverkehrsmarkt auftretenden Unternehmen sprechen. So wird ein privater Anbieter von Schienenverkehrsleistungen unter rein kaufmännischen Gesichtspunkten stets solche Zugleistungen und -verbindungen aufgeben (müssen), deren Ertragswerte negativ sind oder jedenfalls unterhalb der durchschnittlichen Rendite im Bahnsektor liegen. Die einem Glaubensbekenntnis gleichkommende Behauptung, konkurrierende Betreibergesellschaften übernähmen anschließend derartige Zugfahrten, Linien oder Netzteile, verklärt den Umstand, dass auch diese nach betriebswirtschaftlichem Kalkül operieren (müssen). Mit anderen Worten: Auch im Wettbewerb zwischen verschiedenen Zuggesellschaften führt der Rentabilitätsdruck zu einer Einstellung unprofitabler Streckenabschnitte – es sei denn, die Betreibergesellschaften werden dann doch wieder staatlich subventioniert.
Eben dies geschieht über die Regionalisierungsmittel, die der Bund den Ländern und Zweckverbänden für entsprechende Leistungen im Schienenpersonennahverkehr (SPNV) bzw. im gesamten öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) zahlt. Erkennbar können mehrere Schienenverkehrsunternehmen nicht gleichzeitig ihr Produkt – sprich: Bahnfahrten – auf demselben Schienenstrang anbieten. Der vermeintliche Wettbewerb um den schnellsten, preiswertesten und komfortabelsten Zug – verbunden mit vielen verschiedenen Fahrplänen – führt die Bahnfahrer*innen somit nicht ans Ziel, sondern ins Chaos. Kurzum: Die im Volksmund fest verankerte Losung „Wettbewerb belebt das Geschäft“ greift hier eben gerade nicht. Dass diese Gesetzmäßigkeit privaten Unternehmertums von der Mehrheit der Verkehrspolitiker*innen nicht gesehen wird, verwundert angesichts der augenfälligen Folgen.
Düstere Prognosen
Um nachzuvollziehen, wie das Bahnwesen erfolgreich von einem Staatsunternehmen ausgestaltet werden kann, lohnt ein Blick in die Schweiz. Das dortige Eisenbahnsystem gilt als das beste in Europa – mit einem flächendeckenden Angebot bis in entlegenste Winkel, einem integralen Taktfahrplan (der in Deutschland als „Deutschlandtakt“ im Koalitionsvertrag festgeschrieben ist und angestrebt werden soll), einer weltweit bewunderten Pünktlichkeitsquote sowie beneidenswerten Fracht- und Fahrgastzahlen. Nicht ohne Grund kam der Schweizer Verband öffentlicher Verkehr (VöV) bereits vor Jahren zu dem Ergebnis, dass die auch auf EU-Ebene propagierte „Trennungsphilosophie ein fundamentaler Irrtum ist.“
Fast bleibt zu hoffen, dass das Insolvenzverfahren des privaten Zugbetreibers Abellio Rail die Ampelkoalitionäre zum Umdenken bewegt. Mit Dumpingpreisen hatte das Tochterunternehmen der niederländischen Staatsbahnen vor ein paar Jahren die Ausschreibungen von Zuglinien für sich entschieden. Wie schon andere Betreibergesellschaften hatte sich Abellio im Kampf um Marktanteile gerade auch in Konkurrenz zur DB Regio auf geradezu absurde Vertragsbedingungen eingelassen. So musste das Unternehmen selbst dann hohe Strafzahlungen für Zugausfälle und -verspätungen leisten, wenn diese durch Baustellen der DB Netz AG verursacht worden waren. Nun musste das Land NRW einspringen, indem es der Schienenpersonennahverkehrsbranche bis 2032 mit insgesamt 928 Millionen Euro unter die Arme greift. Aber statt die fatalen Folgen des ruinösen Wettbewerbs anzuerkennen und aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, betrachtete die seinerzeitige NRW-Verkehrsministerin Ina Brandes (CDU) das Desaster als üblichen Vorgang der Marktbereinigung. Auch dieses Beispiel zeigt: Es dürfte noch eine Weile dauern, bis sich auch auf (verkehrs-)politischer Ebene die Einsicht durchsetzt, dass ein modernes Verkehrswesen, auf das jedes Industrieland nicht zuletzt unter den Vorzeichen eines beschleunigten Klimawandels angewiesen ist, Sicherheiten und Perspektiven benötigt, die der Markt allein nicht bieten kann.
Tim Engartner ist Professor für Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt ökonomische Bildung an der Universität zu Köln. Zuletzt ist seine Streitschrift mit Wolfgang Kubicki unter dem Titel „Privatisierung – Optimierung oder Entmenschlichung?“ im Westend Verlag erschienen.
Diesen Sonntag wird der Fahrplan von Eisenbahnen in ganz Europa wieder aktualisiert – so auch in Österreich. Neue Verbindungen kommen hinzu, gewohnte Züge weisen vielleicht geänderte Abfahrtszeiten auf. Bei bereits geplanten Reisen sollte man sich vorab über die neuen Fahrpläne informieren!
Auch die ÖBB bieten zusätzliche Verbindungen und sorgen für Taktverdichtungen sowie neue Züge. Hier ein paar der wichtigsten Neuerungen:
Die ersten fabriksneuen Nachtzuggarnituren werden auf der Strecke von Wien und Innsbruck nach Hamburg eingesetzt.
Künftig geht es im Nightjet von Berlin nach Paris und Brüssel – zuerst dreimal wöchentlich, ab Oktober 2024 täglich. Ab dann gibt es auch eine tägliche Verbindung von Wien nach Paris und Brüssel.
Der EuroNight 406/407 fährt ab dem Fahrplanwechsel auf einer neuen Route und bringt Reisende von Salzburg und Linz direkt nach Warschau.
Der Nightjet 456/457 Graz – Wien – Berlin fährt jetzt neu über Prag und Dresden. Das bedeutet eine kürzere Reisezeit sowie attraktivere Abfahrts- und Ankunftszeiten.
Die bestehenden drei Zugpaare Graz – Spielfeld-Straß werden bis nach Maribor und teilweise bis Ljubljana verlängert. Die Hauptstadt Sloweniens wird darüber hinaus durch insgesamt sechs neue Züge von und nach Villach besser angebunden.
Häufigere ICE-Verbindungen von Wien nach Berlin und weiter nach Hamburg.
Auch im Fahrplanjahr 2024 wird das Angebot im Nah- und Regionalverkehr konsequent ausgebaut – so können die ÖBB ein großes Plus von insgesamt rund 4,5 Millionen Angebotskilometern verzeichnen.
Eine echte Verbesserung ist die neue schnelle CJX-Linie von Wien über Baden nach Wiener Neustadt. Dies sollte die vollen Railjet-Garnituren auf dieser Strecke entlasten.
Inbetriebnahme des Kärntner Abschnitts der Koralmbahn zwischen Klagenfurt und Wolfsberg.
Mehr Züge und mehr Fahrgäste können aber zu mehr Konflikten führen. Die allgemeine gesellschaftliche Gereiztheit ist auch in der Eisenbahn spürbar. Einige Fahrgäste meinen, ihren Ärger über verspätete Züge oder überfüllte Garnituren am Personal abreagieren zu können. Übergriffe auf Zugbegleiter:innen nehmen zu – das ist untragbar! Neben mehr Personal bedarf es auch der Zivilcourage und Solidarität der anderen Fahrgäste, um verhaltensauffällige und aggressive Passagiere einzubremsen. Gemeinsam können wir dafür sorgen, unsere Bahnen zu einem sicheren Ort zu machen, an dem sich alle wohlfühlen – Beschäftigte und Fahrgäste.
Kampagne “Unsere Bahnen” gegen Privatisierungswahn und für Qualitätssicherung der rot-weiß-roten Bahnen gestartet
Wien, 06. November 2023 – In einer gemeinsamen Pressekonferenz haben Olivia Janisch von der Gewerkschaft vida und Lukas Oberndorfer von der Arbeiterkammer Wien mit dem Rechtsexperten Prof. Konrad Lachmayer entschiedene Kritik an einem Vorstoß der Europäischen Kommission zur völligen Liberalisierung des Eisenbahnsektors geäußert. Die im Juni 2023 veröffentlichten Leitlinien, also rechtliche Erläuterungen, der Kommission zur Vergabe von Personenverkehrsleistungen auf der Schiene sorgen seitdem für Kritik. Die Leitlinien stellen die in Österreich und den meisten EU-Ländern sowie in der Schweiz übliche und bewährte Direktvergabe durch Bund oder Länder an Eisenbahnunternehmen in Frage. Ein heute präsentiertes Rechtsgutachten von Prof. Derosier und Prof. Lachmayer (Universitätsprofessor für öffentliches Recht und Europarecht) zu den Leitlinien der EU-Kommission zeigt gravierende rechtsstaatliche Probleme und den Versuch, demokratisch gefasste Entscheidungen im Europäischen Parlament auszuhebeln, auf.
“Dieser Ansatz der Kommission steht im Widerspruch zur Verordnung, die nach wie vor die Direktvergabe vorsieht“, betont Prof. Konrad Lachmayer, Mit-Verfasser des Rechtsgutachtens.
Für AK und vida ist der erfolgreiche öffentliche Schienenverkehr zentraler Baustein für Qualität und Sicherheit der österreichischen Bahnen. Dies gilt für Beschäftigte gleichermaßen wie für Fahrgäste und Unternehmen. Darüber hinaus sind die Bahnen ein wichtiger Teil der Lösung der Klimakrise. Die Leitlinien der Kommission stehen all dem entgegen und können laut Rechtsgutachten von den EU-Mitgliedstaaten ignoriert werden, da sie rechtlich nicht verbindlich sind.
Als einen positiven Gegenentwurf zum Liberalisierungsdogma der EU-Kommission haben AK und vida die Kampagne “Unsere Bahnen – Zukunft auf Schiene” ins Leben gerufen, die sich für starke öffentliche Eisenbahnen zum Wohl von Beschäftigten, Fahrgästen und Klimaschutz einsetzt.
„In Europa werden aus gutem Grund über 70 Prozent der Schienenpersonenkilometer über Direktvergabe organisiert und finanziert. Erfolgreiche und sichere Bahnen am Altar der Liberalisierungsreligion zu opfern, würde den öffentlichen Personenverkehr gefährden und hätte auch gravierende negative Auswirkungen auf die Beschäftigten und Arbeitsbedingungen bei den Bahnen“, sagt Olivia Janisch, stv. vida-Vorsitzende.
Die Erfahrungen aus Ländern wie dem Vereinigten Königreich, Griechenland oder Deutschland zeigen, dass die Liberalisierung des Eisenbahnsektors aufs Abstellgleis führt. Die Bahnen werden nicht effizienter. Vielmehr führt Liberalisierung zu einem schlechteren Angebot, höheren Ticketpreisen für die Fahrgäste sowie zu Lohn- und Sozialdumping für Beschäftigte. Darüber hinaus blieb oftmals die Sicherheit zu Gunsten von Gewinnoptimierungen auf der Strecke. Insgesamt zeigen die Erfahrungen mit liberalisierten Eisenbahnen auch gesamtwirtschaftliche und ökologische Abwärtstrends.
Unser Bahnsystem funktioniert, meint Lukas Oberndorfer, Leiter der Abteilung für Umwelt und Verkehr der AK Wien: „Niemand in der EU fährt so viel Bahn, wie die Menschen in Österreich. Das macht deutlich, wie wichtig unsere Bahnen nicht zuletzt beim Pendeln für die Mitglieder der AK sind. Ein Blick über die Grenze zur Deutschen Bahn zeigt die Folgen von Liberalisierung: Mehr Markt bedeutet weniger Verlässlichkeit und Planbarkeit. Das können wir uns angesichts der Klimakrise nicht leisten: In Österreichs Klimabilanz, in der allerdings der Flugverkehr weitgehend ausgeklammert wird, gehen 99 Prozent der verkehrsbedingten Treibhausgas-Emissionen auf den Straßenverkehr zurück. Die Direktvergabe hilft hier rasch, neue und dichtere Zugverbindungen zu schaffen. Ausschreibungen hingegen dauern lange und verzögern die dringend notwendige Mobilitätswende.“
Hintergrund PSO-Verordnung
Guter und niedrigschwelliger öffentlicher Verkehr ist nicht kostendeckend, sondern wird über öffentliche Gelder mitfinanziert. Die sogenannte PSO-Verordnung (Public Service Obligation, Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 bzw. 2016/2338 über öffentliche Personenverkehrsdienste auf Schiene und Straße des Europäischen Parlaments und des Rates) regelt die Organisation, Vergabe und Finanzierung von gemeinwirtschaftlichen Verkehren in der EU. Diese Verordnung sieht im Eisenbahnpersonenverkehr die Wahlmöglichkeit zwischen Direktvergabe und wettbewerblicher Ausschreibung vor.
Dieser Beitrag erschien zuerst am A&W-Blog und wurde aktualisiert. Von: Lukas Oberndorfer & Heinz Högelsberger
Vor dem Sommer hat die EU-Kommission Leitlinien zur Vergabe von Eisenbahnverkehren veröffentlicht, die die ÖBB – aber auch andere Bahnen – in ihren Grundfesten erschüttern und gefährden kann: Das Erfolgsmodell der Direktvergabe soll zerstört und durch das Experiment der wettbewerblichen Ausschreibung ersetzt werden. Damit drohen negative Auswirkungen auf die Arbeitsplätze und -bedingungen, die Qualität des öffentlichen Verkehrs und die Chancen einer ökologischen Mobilitätswende.
Zur Vorgeschichte: Versuche der Deregulierung
Guter und niedrigschwelliger öffentlicher Verkehr ist nicht kostendeckend, sondern wird über öffentliche Gelder mitfinanziert. Die sogenannte PSO-Verordnung (PSO = Public Service Obligation) des europäischen Parlaments regelt die Organisation, Vergabe und Finanzierung dieser gemeinwirtschaftlichen Verkehre. Diese Verordnung sieht im Eisenbahnpersonenverkehr die Wahlmöglichkeit zwischen Direktvergabe und wettbewerblicher Ausschreibung vor.
So hat es sich als sehr erfolgreich erwiesen, dass in Österreich und der Schweiz die Behörden auf eine vertrauensvolle und langjährige Zusammenarbeit setzten und den Auftrag zur Erbringung von Eisenbahndienstleistungen direkt an das Unternehmen ihrer Wahl vergeben. Das Resultat: In keinem anderen europäischen Land wird so viel Bahn gefahren, wie in Österreich und der Schweiz.
Im Bahnverkehr gibt es viele mehr oder weniger fixe Kosten für die Unternehmen: Energie, Schienenmaut oder Rollmaterial (also Lokomotiven, Triebwagen, Wagen, usw.) kosten für alle etwa gleich viel. Eine der wenigen flexiblen Stellgrößen sind die Personalkosten, was traurige Effekte nach sich ziehen kann. Häufig zahlen bei wettbewerblichen Ausschreibungen daher die Belegschaft und die Qualität der Dienstleistung drauf. Verliert ein bisheriger Betreiber (z.B. ÖBB, Stern & Hafferl, Salzburger Lokalbahn) eine große Ausschreibung, so stehen zahlreiche Eisenbahner:innen ohne Job da. Das ist eine soziale, aber auch volkswirtschaftliche Tragödie.
Direktvergaben schaffen hingegen Resilienz in Krisen, in dem etwa rasch und unbürokratisch auf sich ändernde Fahrgastströme reagiert werden kann. Das hat sich der Pandemie gezeigt, in der trotz Passagierschwund auf der (eigenwirtschaftlichen) Westbahnstrecke das Bahnangebot aufrechterhalten werden konnte. Auch Zusatzzüge für Flüchtlinge aus der Ukraine konnten so rasch organisiert werden. Schließlich ist die längst fällige Mobilitätswende durch die Direktvergabe unkomplizierter zu planen und rascher umzusetzen.
2016 unternahm die Europäische Kommission einen ersten Versuch die Direktvergabe umfassend einzuschränken und so die Tür für Deregulierung und Wettbewerb zu öffnen. Doch nach einer breiten öffentlichen Debatte beschloss das Europäische Parlament einen Abänderungsantrag, der die Möglichkeit zur Direktvergabe zwar an Kriterien knüpft, aber sicherstellt, dass der Wettbewerb gegenüber Direktvergabe keinen Vorrang genießt, wenn:
aufgrund der jeweiligen […] Merkmale des Marktes und des betreffenden Netzes [dies] gerechtfertigt ist und
ein derartiger Auftrag zu einer Verbesserung der Qualität der Dienste oder der Kosteneffizienz […] führen würde.
Gerade Akteure, die an einer weiteren Liberalisierung und Privatisierung des Bahnverkehrs interessiert sind, versuchen den oben zitierten Wortlaut der Verordnung nun so auszulegen, dass eine Direktvergabe praktisch unmöglich ist. Um diese Erzählung zu durchbrechen und Klarheit zu schaffen, erstellten die beiden Vergabeexperten Josef Aicher und Rudolf Lessiak in Auftrag der AK Wien ein Rechtgutachten. Das zentrale Ergebnis:
„Eine Vorrangigkeit der wettbewerblichen Vergabe oder Nachrangigkeit der Direktvergabe ist aus der PSO nicht ableitbar. Sind alle Elemente des Tatbestandes der zulässigen Direktvergabe erfüllt, dann bedarf es keiner zusätzlichen Begründung, weshalb direkt und nicht im wettbewerblichen Verfahren vergeben werden soll.“
Europäische Kommission prescht mit Leitlinien vor
Die EU-Kommission hat im Dezember 2021 einen Entwurf von „Guidelines“ – also Leitlinien – dazu verfasst, wie die novellierte PSO-VO zu interpretieren ist. Sie will damit die Anwendung der Direktvergabe entgegen dem Wortlaut der Verordnung nur noch in Ausnahmefällen zulassen. Während die gesamte Kommission mit dem Green Deal und etwa der Mindestlohnrichtlinie in den letzten Jahren versucht ökologische und auch soziale Aspekte verstärkt in ihrer Politik zu berücksichtigen, stammen die Leitlinien aus der immer noch stark neoliberal geprägten Generaldirektion Mobilität und Verkehr.
Das Empörende an der ganzen Vorgangsweise: Die Kommission versucht mit ihren Leilinien den Willen des europäischen Gesetzgebers zu unterlaufen. Durch die exekutive Hintertür will sie doch noch jene Vorstellungen durchsetzen, mit denen sie 2016 in der demokratischen Auseinandersetzung gescheitert ist. Dementsprechend scharfe Kritik kam daher auch aus dem Europäischen Parlament und von zahlreichen Verkehrsminister:innen. Das hinderte die Kommission aber nicht daran, unbeirrt fortzufahren. Im Juni 2023 veröffentlichte sie eine etwas abgeschwächte endgültige Version der Leitlinien, die aber immer noch dem Geist und Text der demokratisch beschlossenen PSO-Verordnung widersprechen.
Welchen Charakter haben Leitlinien der Kommission?
Um nachvollziehbar zu machen, wie undemokratisch dieses Vorgehen ist, gilt es kurz zu verdeutlichen, was Leitlinien der Kommission überhaupt sind. Bei Leitlinien der Kommission handelt es sich im Gegensatz zu Verordnungen und Richtlinien des Europäischen Parlaments und des Rats (Europäischer Gesetzgeber) nicht um allgemein verbindliches EU-Sekundärrecht. Vielmehr erlässt die Kommission Leitlinien in Form von Mitteilungen, die darlegen wie die Behörde gedenkt einen verbindlichen Rechtsakt des europäischen Gesetzgebers konkret anzuwenden.
In einem aktuellen Rechtsgutachten haben die beiden Professoren Konrad Lachmayer und Jean-Philippe Derosier die Relevanz und Verbindlichkeit der Auslegungsleitlinien analysiert. Ihre Schlussfolgerungen:
Die Auslegungsleitlinien stehen im Widerspruch zum Willen des Ver-ordnungsgebers und schränken die Direktvergabe auf nicht zulässige Art und Weise ein.
Eine mitgliedstaatliche Berücksichtigungspflicht, die den österreichischen Bund oder die Länder hinsichtlich der Auslegungsleitlinien treffen könnte, besteht für jene Teile der Auslegungsleitlinien nicht, die rechtsverbindlichem Unionsrecht widersprechen.
Schützen wir die Bahn gegen Deregulierung
Es ist daher wichtig das Wissen zu verbreitern, dass weder der Bund noch die Länder an die Leitlinien der Kommission gebunden sind. Vielmehr sind sie sogar dazu verpflichtet, die Leitlinien nicht zu berücksichtigen, da sie gegen Rechtsakte des europäischen Gesetzgebers verstoßen. Das den Entscheidern unmissverständlich klarzumachen, wird die Aufgabe jener sein, die an nachhaltiger und qualitativ hochwertiger Mobilität und der dafür notwendigen guten Arbeitsbedingungen ein Interesse haben.
Die Auseinandersetzung für ein demokratisches Europa und ein Bahnsystem von hoher Qualität, das für soziale und ökologische Nachhaltigkeit steht, darf mit Beschlussfassung der Leitlinien nicht zu Ende sein. Vielmehr geht es darum eine breite Öffentlichkeit dafür herzustellen, die eine Zukunft auf Schiene sicherstellt.
Lukas Oberndorfer ist Leiter der Abteilung Umwelt und Verkehr der AK Wien. Heinz Högelsberger arbeitet in der Abteilung Umwelt und Verkehr der AK Wien.
Die EU-Eisenbahnliberalisierung mit Dumping-Wettbewerb auf Kosten der Bahnbeschäftigten betrachtet Gerhard Tauchner, Vorsitzender des Fachbereichs Eisenbahn in der Gewerkschaft vida, als offensichtlich gescheitert.
Auch den Fahrgästen nicht viel gebracht
Fliegen ist billiger als Zugfahren, auch die Privatbahnbetreiber erhöhen die Preise. „Ich begrüße und verstehe gut die Bemühungen der ÖVP um ein einheitliches und transparentes europäisches Ticketsystem“, nimmt Tauchner auf einen „Kurier“-Artikel im August Bezug.
„Viel Hoffnung sehe ich da allerdings nicht. Die Liberalisierungstreiber der ersten Stunde, ÖVP und EU-Kommission, haben sich selbst ein ‚faules Ei‘ gelegt. Denn die unterschiedlichen Ticketsysteme sind ein Auswuchs von Marktliberalisierung und Wettbewerb.“
Gerhard Tauchner, Fachbereichsvorsitzender Gewerkschaft vida
Allein im liberalisierten deutschen Schienenverkehrsmarkt stünden mehr als 300 Personenverkehrsbetreiber im Wettbewerb. „Man stelle sich nur vor, die Politik will für 300 Gastronomiebetriebe im Wettbewerb eine einzige Speisekarte mit klarer Preisgestaltung schaffen. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit“, gibt der vida-Gewerkschafter zu bedenken.
Arbeitsbedingungen massiv verschlechtert
Arbeitsbedingungen und Einkommen habe sich in vielen EU-Ländern durch die Liberalisierung schon verschlechtert. „Nicht zuletzt deswegen kämpfen die durch den Wettbewerb und Ausschreibungen zum Sparen gezwungenen Bahnen längst auch mit massivem Personalmangel, Zugausfällen und Verspätungen. Die Beschäftigten leiden unter einer Überstundenflut“, kritisiert Tauchner.
„Eine zukunftsfähige Verkehrspolitik auf europäischer Ebene muss die Schiene gegenüber der Straße und der Luftfahrt weiter stärken! Das geht mit für alle Gesellschaftsschichten erschwinglichen Fahrkarten, besser und grenzüberschreitender Abdeckung und intelligent vernetzten Fahrplänen. Das ist aus sozialer Sicht unabdingbar und hilft uns, die Ziele eines nachhaltigen Mobilitätsmixes zu erreichen. Liberalisierung und Ausschreibungszwang bringen uns jedenfalls der Verbesserung und Transparenz des Angebots kein Stück näher“, plädiert Tauchner für die bewährte Direktvergabe anstelle von Ausschreibungszwang von Verkehrsleistungen im Schienenpersonenverkehr.
„In Österreich und in Europa werden über 80 Prozent der Schienenpersonenkilometer über Direktvergabe organisiert und finanziert. Eine Änderung hin zu einer von der EU-Kommission angestrebten Ausschreibungspflicht wäre ein massiver Eingriff in die Stabilität des gut funktionierenden öffentlichen Verkehrs in Österreich. Das hätte zudem weitere gravierende negative Auswirkungen auf die Bahnbeschäftigten und deren Arbeitsbedingungen“
– Gerhard Tauchner, Fachbereichsvorsitzender Gewerkschaft vida
Initiativen für Bahnsicherheit
Die Gewerkschaft vida hat auf europäischer Ebene seit Jahren immer wieder Initiativen für Bahnsicherheit gegen die von der EU-Kommission geplante Absenkung von Ausbildungsniveaus gesetzt. „Wir setzen uns für gemeinsame hohe Ausbildungsstandards nach dem Vorbild der österreichischen Eisenbahn Eignungs- und Prüfungsverordnung (EisbEPV) für ganz Europa ein“, so Tauchner. Auch verpflichtende Arbeitszeitaufzeichnung bei den Bahnen und die Kontrolle dieser durch die Behörden seien für einen sicheren Betrieb unerlässlich.
„Wir würden uns sehr freuen, wenn auch die ÖVP gemeinsam mit uns diesbezügliche Initiativen auf europäischer Ebene setzen würde, wie dies schon beispielsweise die SPÖ bezüglich des Erhalts der Direktvergabe und bei der PSO-Verordnung mit uns getan hat. Ich könnte mir zu diesen dringlichen Eisenbahnthemen auch einen Bahngipfel mit den Parteien unter Einbindung von Expert:innen gut vorstellen“, betont Tauchner abschließend.
Die Arbeiterkammer Wien und die österreichische Verkehrs- und Dienstleistungsgewerkschaft vida laden zur Pressekonferenz über die Auswirkungen der PSO Richtlinie ein.
Prof. Dr. jur. Konrad Lachmayer wird sein Rechtsgutachten zu den Auswirkungen der Änderung von Direktvergaben auf den Bahnverkehr präsentieren.
Olivia Janisch, stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft vida, nimmt Stellung zu den Auswirkungen auf die Beschäftigten.
Lukas Oberndorfer, Leiter der Abteilung Umwelt & Verkehr AK Wien, wird Besonderheiten des EU-Rechts eingehen und auf die Einflüsse auf langfristige Umweltauswirkungen
Datum: 06. November 2023, 10 Uhr Online: wien.arbeiterkammer.at/unserebahnen Ort: AK Wien, AK Medienraum, 6. Obergeschoss, Plößlgasse 2, 1040 Wien, Österreich
Die Pressekonferenz wird in hybrider Form stattfinden, sodass Sie die Möglichkeit haben, persönlich anwesend zu sein oder sich online zuzuschalten: https://wien.arbeiterkammer.at/unserebahnen
Bitte bestätigen Sie Ihre Teilnahme und geben Sie an, ob Sie persönlich oder virtuell teilnehmen werden.
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