Dieser Beitrag erschien zuerst am A&W-Blog und wurde aktualisiert.
Von: Lukas Oberndorfer & Heinz Högelsberger
Vor dem Sommer hat die EU-Kommission Leitlinien zur Vergabe von Eisenbahnverkehren veröffentlicht, die die ÖBB – aber auch andere Bahnen – in ihren Grundfesten erschüttern und gefährden kann: Das Erfolgsmodell der Direktvergabe soll zerstört und durch das Experiment der wettbewerblichen Ausschreibung ersetzt werden. Damit drohen negative Auswirkungen auf die Arbeitsplätze und -bedingungen, die Qualität des öffentlichen Verkehrs und die Chancen einer ökologischen Mobilitätswende.
Zur Vorgeschichte: Versuche der Deregulierung
Guter und niedrigschwelliger öffentlicher Verkehr ist nicht kostendeckend, sondern wird über öffentliche Gelder mitfinanziert. Die sogenannte PSO-Verordnung (PSO = Public Service Obligation) des europäischen Parlaments regelt die Organisation, Vergabe und Finanzierung dieser gemeinwirtschaftlichen Verkehre. Diese Verordnung sieht im Eisenbahnpersonenverkehr die Wahlmöglichkeit zwischen Direktvergabe und wettbewerblicher Ausschreibung vor.
So hat es sich als sehr erfolgreich erwiesen, dass in Österreich und der Schweiz die Behörden auf eine vertrauensvolle und langjährige Zusammenarbeit setzten und den Auftrag zur Erbringung von Eisenbahndienstleistungen direkt an das Unternehmen ihrer Wahl vergeben. Das Resultat: In keinem anderen europäischen Land wird so viel Bahn gefahren, wie in Österreich und der Schweiz.
Im Bahnverkehr gibt es viele mehr oder weniger fixe Kosten für die Unternehmen: Energie, Schienenmaut oder Rollmaterial (also Lokomotiven, Triebwagen, Wagen, usw.) kosten für alle etwa gleich viel. Eine der wenigen flexiblen Stellgrößen sind die Personalkosten, was traurige Effekte nach sich ziehen kann. Häufig zahlen bei wettbewerblichen Ausschreibungen daher die Belegschaft und die Qualität der Dienstleistung drauf. Verliert ein bisheriger Betreiber (z.B. ÖBB, Stern & Hafferl, Salzburger Lokalbahn) eine große Ausschreibung, so stehen zahlreiche Eisenbahner:innen ohne Job da. Das ist eine soziale, aber auch volkswirtschaftliche Tragödie.
Direktvergaben schaffen hingegen Resilienz in Krisen, in dem etwa rasch und unbürokratisch auf sich ändernde Fahrgastströme reagiert werden kann. Das hat sich der Pandemie gezeigt, in der trotz Passagierschwund auf der (eigenwirtschaftlichen) Westbahnstrecke das Bahnangebot aufrechterhalten werden konnte. Auch Zusatzzüge für Flüchtlinge aus der Ukraine konnten so rasch organisiert werden. Schließlich ist die längst fällige Mobilitätswende durch die Direktvergabe unkomplizierter zu planen und rascher umzusetzen.
2016 unternahm die Europäische Kommission einen ersten Versuch die Direktvergabe umfassend einzuschränken und so die Tür für Deregulierung und Wettbewerb zu öffnen. Doch nach einer breiten öffentlichen Debatte beschloss das Europäische Parlament einen Abänderungsantrag, der die Möglichkeit zur Direktvergabe zwar an Kriterien knüpft, aber sicherstellt, dass der Wettbewerb gegenüber Direktvergabe keinen Vorrang genießt, wenn:
- aufgrund der jeweiligen […] Merkmale des Marktes und des betreffenden Netzes [dies] gerechtfertigt ist und
- ein derartiger Auftrag zu einer Verbesserung der Qualität der Dienste oder der Kosteneffizienz […] führen würde.
Gerade Akteure, die an einer weiteren Liberalisierung und Privatisierung des Bahnverkehrs interessiert sind, versuchen den oben zitierten Wortlaut der Verordnung nun so auszulegen, dass eine Direktvergabe praktisch unmöglich ist. Um diese Erzählung zu durchbrechen und Klarheit zu schaffen, erstellten die beiden Vergabeexperten Josef Aicher und Rudolf Lessiak in Auftrag der AK Wien ein Rechtgutachten. Das zentrale Ergebnis:
„Eine Vorrangigkeit der wettbewerblichen Vergabe oder Nachrangigkeit der Direktvergabe ist aus der PSO nicht ableitbar. Sind alle Elemente des Tatbestandes der zulässigen Direktvergabe erfüllt, dann bedarf es keiner zusätzlichen Begründung, weshalb direkt und nicht im wettbewerblichen Verfahren vergeben werden soll.“
Europäische Kommission prescht mit Leitlinien vor
Die EU-Kommission hat im Dezember 2021 einen Entwurf von „Guidelines“ – also Leitlinien – dazu verfasst, wie die novellierte PSO-VO zu interpretieren ist. Sie will damit die Anwendung der Direktvergabe entgegen dem Wortlaut der Verordnung nur noch in Ausnahmefällen zulassen. Während die gesamte Kommission mit dem Green Deal und etwa der Mindestlohnrichtlinie in den letzten Jahren versucht ökologische und auch soziale Aspekte verstärkt in ihrer Politik zu berücksichtigen, stammen die Leitlinien aus der immer noch stark neoliberal geprägten Generaldirektion Mobilität und Verkehr.
Das Empörende an der ganzen Vorgangsweise: Die Kommission versucht mit ihren Leilinien den Willen des europäischen Gesetzgebers zu unterlaufen. Durch die exekutive Hintertür will sie doch noch jene Vorstellungen durchsetzen, mit denen sie 2016 in der demokratischen Auseinandersetzung gescheitert ist. Dementsprechend scharfe Kritik kam daher auch aus dem Europäischen Parlament und von zahlreichen Verkehrsminister:innen. Das hinderte die Kommission aber nicht daran, unbeirrt fortzufahren. Im Juni 2023 veröffentlichte sie eine etwas abgeschwächte endgültige Version der Leitlinien, die aber immer noch dem Geist und Text der demokratisch beschlossenen PSO-Verordnung widersprechen.
Welchen Charakter haben Leitlinien der Kommission?
Um nachvollziehbar zu machen, wie undemokratisch dieses Vorgehen ist, gilt es kurz zu verdeutlichen, was Leitlinien der Kommission überhaupt sind. Bei Leitlinien der Kommission handelt es sich im Gegensatz zu Verordnungen und Richtlinien des Europäischen Parlaments und des Rats (Europäischer Gesetzgeber) nicht um allgemein verbindliches EU-Sekundärrecht. Vielmehr erlässt die Kommission Leitlinien in Form von Mitteilungen, die darlegen wie die Behörde gedenkt einen verbindlichen Rechtsakt des europäischen Gesetzgebers konkret anzuwenden.
In einem aktuellen Rechtsgutachten haben die beiden Professoren Konrad Lachmayer und Jean-Philippe Derosier die Relevanz und Verbindlichkeit der Auslegungsleitlinien analysiert. Ihre Schlussfolgerungen:
- Die Auslegungsleitlinien stehen im Widerspruch zum Willen des Ver-ordnungsgebers und schränken die Direktvergabe auf nicht zulässige Art und Weise ein.
- Eine mitgliedstaatliche Berücksichtigungspflicht, die den österreichischen Bund oder die Länder hinsichtlich der Auslegungsleitlinien treffen könnte, besteht für jene Teile der Auslegungsleitlinien nicht, die rechtsverbindlichem Unionsrecht widersprechen.
Schützen wir die Bahn gegen Deregulierung
Es ist daher wichtig das Wissen zu verbreitern, dass weder der Bund noch die Länder an die Leitlinien der Kommission gebunden sind. Vielmehr sind sie sogar dazu verpflichtet, die Leitlinien nicht zu berücksichtigen, da sie gegen Rechtsakte des europäischen Gesetzgebers verstoßen. Das den Entscheidern unmissverständlich klarzumachen, wird die Aufgabe jener sein, die an nachhaltiger und qualitativ hochwertiger Mobilität und der dafür notwendigen guten Arbeitsbedingungen ein Interesse haben.
Die Auseinandersetzung für ein demokratisches Europa und ein Bahnsystem von hoher Qualität, das für soziale und ökologische Nachhaltigkeit steht, darf mit Beschlussfassung der Leitlinien nicht zu Ende sein. Vielmehr geht es darum eine breite Öffentlichkeit dafür herzustellen, die eine Zukunft auf Schiene sicherstellt.
Lukas Oberndorfer ist Leiter der Abteilung Umwelt und Verkehr der AK Wien.
Heinz Högelsberger arbeitet in der Abteilung Umwelt und Verkehr der AK Wien.