Liberalisierung des Bahnsektors bedeutet auch ein Modell, in dem Leistungen wie der Erhalt des Schienennetzes und der Betrieb der Bahnverbindungen selbst getrennt werden. Diese Trennung führt allerdings in die wirtschaftliche und verkehrsplanerische Irre, schreibt Tim Engartner, Professor für Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln.
Fehlende Waggons, ausgedünnte Fahrpläne und verwahrloste Bahnhöfe stoßen Reisenden der Deutschen Bahn (DB) AG ebenso auf wie unpünktliche Züge. Jeder zweite Fernverkehrszug war im November 2023 verspätet. So unpünktlich waren die IC- und ICE-Züge des bundeseigenen Konzerns seit acht Jahren nicht mehr, und das, obwohl ausfallende Verbindungen durch die Pünktlichkeitsstatistik gar nicht erst erfasst werden. Geschuldet sind die Verspätungen laut Aussage des DB-Vorstands insbesondere dem „kurzfristigen Baugeschehen“. Rund 75 Prozent der Fernverkehrszüge seien durch mindestens eine Baustelle ausgebremst worden.
Immerhin hat sich die amtierende Bundesregierung darauf geeinigt, mehr Geld in die maroden Schienenwege zu investieren. Diese Mittel sollen der Erreichung ambitionierter Ziele dienen, heißt es doch im Koalitionsvertrag der „Ampel“-Regierung: „Wir werden den Masterplan Schienenverkehr weiterentwickeln und zügiger umsetzen, den Schienengüterverkehr bis 2030 auf 25 Prozent steigern und die Verkehrsleistung im Personenverkehr verdoppeln.“
Derzeit aber hinkt Deutschland bei den Pro-Kopf-Investitionen in die Schieneninfrastruktur auch im europäischen Vergleich weit hinterher. Lediglich 114,- Euro pro Kopf, und damit weniger als im Vorjahr, hat der Bund im vergangenen Jahr für seine Schieneninfrastruktur ausgegeben, während die Investitionssummen in den meisten anderen Ländern gestiegen sind. Dabei sind sich – von einer unrühmlichen parlamentarischen Vertretung abgesehen – alle im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien einig, dass die Verkehrswende nur mit einer Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene gelingen kann.
Schmerzliche Trennung
Tiefgreifende politische Maßnahmen lassen jedoch auf sich warten, zumal die Hoffnung auf substanzielle Verbesserung durch die auch von europäischer Ebene angestoßene Debatte über die Trennung von Netz und Betrieb getrübt wird, die auf die neoliberale Wettbewerbsorientierung vertraut. Spätestens seit dem im Sommer 2021 veröffentlichten Positionspapier, in dem u. a. der Fahrgastverband PRO BAHN, die Lokführergewerkschaft GDL und die Verbraucherzentrale Bundesverband für eine Aufspaltung der DB AG in zwei unabhängige Unternehmen plädieren, wird das Thema wieder intensiv diskutiert. Dass sich die Monopolkommission als „Hüterin“ des Wettbewerbs dieser Position im Glauben an dessen belebende Kraft angeschlossen hat, verwundert nicht.
Dabei sind die Argumente für eine Beibehaltung des integrierten Konzerns ebenso vielschichtig wie überzeugend. Aktuell verweisen sowohl das Aktionsbündnis Bahn für Alle als auch die Eisenbahnergewerkschaft EVG auf die widerstreitenden Interessen eines „reinen“ Netzbetreibers und „reinen“ Verkehrsunternehmens. Neben der Fragmentierung des komplexen Schienenverkehrssystems werden weitere entscheidende Gründe übersehen, die gegen eine Gewinn- oder gar Kapitalmarktorientierung der auf dem Schienenverkehrsmarkt auftretenden Unternehmen sprechen. So wird ein privater Anbieter von Schienenverkehrsleistungen unter rein kaufmännischen Gesichtspunkten stets solche Zugleistungen und -verbindungen aufgeben (müssen), deren Ertragswerte negativ sind oder jedenfalls unterhalb der durchschnittlichen Rendite im Bahnsektor liegen. Die einem Glaubensbekenntnis gleichkommende Behauptung, konkurrierende Betreibergesellschaften übernähmen anschließend derartige Zugfahrten, Linien oder Netzteile, verklärt den Umstand, dass auch diese nach betriebswirtschaftlichem Kalkül operieren (müssen). Mit anderen Worten: Auch im Wettbewerb zwischen verschiedenen Zuggesellschaften führt der Rentabilitätsdruck zu einer Einstellung unprofitabler Streckenabschnitte – es sei denn, die Betreibergesellschaften werden dann doch wieder staatlich subventioniert.
Eben dies geschieht über die Regionalisierungsmittel, die der Bund den Ländern und Zweckverbänden für entsprechende Leistungen im Schienenpersonennahverkehr (SPNV) bzw. im gesamten öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) zahlt. Erkennbar können mehrere Schienenverkehrsunternehmen nicht gleichzeitig ihr Produkt – sprich: Bahnfahrten – auf demselben Schienenstrang anbieten. Der vermeintliche Wettbewerb um den schnellsten, preiswertesten und komfortabelsten Zug – verbunden mit vielen verschiedenen Fahrplänen – führt die Bahnfahrer*innen somit nicht ans Ziel, sondern ins Chaos. Kurzum: Die im Volksmund fest verankerte Losung „Wettbewerb belebt das Geschäft“ greift hier eben gerade nicht. Dass diese Gesetzmäßigkeit privaten Unternehmertums von der Mehrheit der Verkehrspolitiker*innen nicht gesehen wird, verwundert angesichts der augenfälligen Folgen.
Düstere Prognosen
Um nachzuvollziehen, wie das Bahnwesen erfolgreich von einem Staatsunternehmen ausgestaltet werden kann, lohnt ein Blick in die Schweiz. Das dortige Eisenbahnsystem gilt als das beste in Europa – mit einem flächendeckenden Angebot bis in entlegenste Winkel, einem integralen Taktfahrplan (der in Deutschland als „Deutschlandtakt“ im Koalitionsvertrag festgeschrieben ist und angestrebt werden soll), einer weltweit bewunderten Pünktlichkeitsquote sowie beneidenswerten Fracht- und Fahrgastzahlen. Nicht ohne Grund kam der Schweizer Verband öffentlicher Verkehr (VöV) bereits vor Jahren zu dem Ergebnis, dass die auch auf EU-Ebene propagierte „Trennungsphilosophie ein fundamentaler Irrtum ist.“
Fast bleibt zu hoffen, dass das Insolvenzverfahren des privaten Zugbetreibers Abellio Rail die Ampelkoalitionäre zum Umdenken bewegt. Mit Dumpingpreisen hatte das Tochterunternehmen der niederländischen Staatsbahnen vor ein paar Jahren die Ausschreibungen von Zuglinien für sich entschieden. Wie schon andere Betreibergesellschaften hatte sich Abellio im Kampf um Marktanteile gerade auch in Konkurrenz zur DB Regio auf geradezu absurde Vertragsbedingungen eingelassen. So musste das Unternehmen selbst dann hohe Strafzahlungen für Zugausfälle und -verspätungen leisten, wenn diese durch Baustellen der DB Netz AG verursacht worden waren. Nun musste das Land NRW einspringen, indem es der Schienenpersonennahverkehrsbranche bis 2032 mit insgesamt 928 Millionen Euro unter die Arme greift. Aber statt die fatalen Folgen des ruinösen Wettbewerbs anzuerkennen und aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, betrachtete die seinerzeitige NRW-Verkehrsministerin Ina Brandes (CDU) das Desaster als üblichen Vorgang der Marktbereinigung. Auch dieses Beispiel zeigt: Es dürfte noch eine Weile dauern, bis sich auch auf (verkehrs-)politischer Ebene die Einsicht durchsetzt, dass ein modernes Verkehrswesen, auf das jedes Industrieland nicht zuletzt unter den Vorzeichen eines beschleunigten Klimawandels angewiesen ist, Sicherheiten und Perspektiven benötigt, die der Markt allein nicht bieten kann.
Tim Engartner ist Professor für Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt ökonomische Bildung an der Universität zu Köln. Zuletzt ist seine Streitschrift mit Wolfgang Kubicki unter dem Titel „Privatisierung – Optimierung oder Entmenschlichung?“ im Westend Verlag erschienen.