Tim Engartner, Professor für Sozialwissenschaften an der Universität Köln, hat am 24. Mai an einer Podiumsdiskussion in Wien Zwischenergebnisse seiner Studie zur neoliberalen Bahnpolitik der EU vorgestellt.
Engartner erarbeitet die Studie im Auftrag der österreichischen Bahngewerkschaft Vida, des SEV und weiterer Partner vor dem Hintergrund des Versuchs der EU-Kommission, Ausschreibungen von Bahnleistungen obligatorisch zu erklären, bzw. sollen Direktvergaben unzulässig werden. Dagegen wehrt sich Vida in Österreich, wo sich Direktvergaben wie in der Schweiz bisher bewährt haben. Ausserdem geht es in Engartners Studie um die Erfolge und Misserfolge der europäischen Bahnliberalisierung.
Im Summary Paper «Verfehlte Weichenstellungen in Richtung Wettbewerb – oder: Warum die EU-Kommission die Bahn nicht auf die Erfolgsschiene bringt» zieht Engartner eine ernüchternde Bilanz der EU-Politik der letzten 20 Jahre. So lag im Jahr 2021 der Bahnanteil beim Güterverkehr in den 27-EU-Ländern nur bei 17 % und der Strassenanteil bei 77 %. Das sind 3 % mehr als 2011. Im grenzüberschreitenden Schienenpersonenverkehr wurden 2021 pro EU-Einwohner:in nur 23 Kilometer zurückgelegt und auf nationalen Zugfahrten 560. Gemäss Litra waren es 588 km pro Einwohner:in in den berücksichtigten europäischen Ländern, darunter die Schweiz auf Platz 1 mit 1628 km, vor Frankreich mit 1118 km und Österreich mit 933 km.
Fatale Fragmentierung
Der Misserfolg der Bahn in der EU ist gemäss Engartner auf die Politik der EU in Richtung Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung zurückzuführen. Bis in die Neunzigerjahre wurde das Bahnwesen nämlich noch umfassend reguliert, was eine langfristige Planung und Steuerung erlaubte. Als Beispiel nennt er die Fragmentierung des britischen Bahnsystems: «Nach wie vor bilden die Betreibergesellschaften gemeinsam mit den Zugleasingfirmen, mit dem 2002 gegründeten Infrastrukturbetreiber Network Rail sowie mit den zwischenzeitlich mehr als 2000 Subunternehmen ein kaum zu durchschauendes Interaktions- und Aufgabengeflecht», schreibt Engartner. «Waren die Verantwortlichkeiten zu Zeiten von British Rail eindeutig zu benennen, gab es infolge der Fragmentierung einen zusätzlichen Bedarf an bürokratischen Abläufen (…). Mindestens einen Impuls erhielt die britische Regierung dabei über die EU-Richtlinie 91/440/EWG: Diese forderte eine vom Staat unabhängige Geschäftsführung der Eisenbahnunternehmen (EVU) ein, schrieb sowohl die buchhalterische Trennung von Eisenbahninfrastruktur und (Eisenbahn-)Dienstleistungen als auch den wettbewerbsorientierten Zugang zu den Netzen der Mitgliedsstaaten für internationale EVU vor. (…) Eine Studie aus dem Jahr 2019 etwa hat ergeben, dass jeder Kilometer, den ein Fahrgast mit der Bahn zurücklegt, in Grossbritannien Gesamtkosten von umgerechnet 38,1 Eurocent verursacht, während die Kosten in der Schweiz mit umgerechnet 19 Eurocent knapp halb so hoch ausfallen.» Nun will die britische Regierung das Bahnsystem wieder stärker zusammenführen.
Kostspielige Ausschreibung
Engartner verweist auch auf die negativen Folgen des von der EU-Kommission propagierten intermodalen Wettbewerbs zwischen EVU und die Ausschreibungswettbewerbe im Besonderen: Diese verursachen im Vergleich zu Direktausschreibungen mehr Aufwand und Kosten für Auftraggeber und Auftragnehmer. Dazu kommen häufige juristische Anfechtungen der Verfahren. Kund:innen müssen oft eingeschränkte Angebote hinnehmen. Mitarbeitende der unterlegenen Bahnen rutschen vielfach in die «friktionelle» Arbeitslosigkeit. Und weil Trassengebühren und die Kosten für Energie und Rollmaterial für die EVUs weitgehend identisch sind, tragen sie den Wettbewerb vor allem über die Personalkosten aus. Zudem spielt der Wettbewerb oft nicht richtig: So wurden im Jahr 2022 in Deutschland bei 17 Bahnausschreibungen gerade mal 24 Offerten eingereicht, also 1,4 pro Ausschreibung, Tendenz weiter sinkend.
Ferner können Vergaben an Billigstanbieter, die nur an kurzfristigem Gewinn interessiert sind, für Besteller und Kunden zum Desaster werden, wie das Beispiel von Abellio Rail in Deutschland zeigt: Das Tochterunternehmen der niederländischen Staatsbahnen ergatterte vor einigen Jahren mit Dumpingangeboten den Zuschlag für etliche Regionalverkehrslinien. Es ging absurde Vertragsbedingungen ein, die ihm Strafzahlungen für Zugsausfälle und -verspätungen einbrockten, die es nicht bezahlen konnte, zumal der Mutterkonzern nicht einsprang. Das führte zu Gerichtshändeln mit den Verkehrsverbünden, und das Land Nordrhein-Westfalen musste für viel Geld Verkehrsleistungen bei anderen EVU einkaufen.
Doch statt aus solchen Erfahrungen zu lernen, will die EU-Kommission Ausschreibungen zur Pflicht machen, obwohl das vierte Eisenbahnpaket weiterhin Direktvergaben gleichberechtigt zulässt. «Angesichts der herausragenden Fahrgastzuwächse im österreichischen und schweizerischen Schienenverkehr stellt sich die Frage, warum das Erfolgsmodell der verkehrspolitischen Steuerung mittels Direktvergaben aufgegeben werden sollte», hält Engartner fest. Und er unterstreicht: Um die Bahn als klimafreundlichen Verkehrsträger in Europa voranzubringen, braucht diese vor allem mehr Investitionen.
Zuerst hier erschienen
Autorenschaft: Markus Fischer, markus.fischer@sev-online.ch