Seit Jahrzehnten werden in Deutschland Aufträge für den Schienenpersonennahverkehr ausgeschrieben. Was als Fortschritt angepriesen wurde, schlägt sich in Wahrheit vielfach negativ nieder. Auch in Pleiten, wie das Beispiel der niederländisch-deutschen Abellio zeigt.
Auf den ersten Blick scheint der Wettbewerb eine Erfolgsgeschichte zu sein: Seit 1996 kam es zu einer Steigerung der Zugtakte um rund 40 Prozent und der Personenkilometer um rund 65 Prozent. Die Zugtaktung wurde erhöht und neue Linien eröffnet. Damals übertrug der Bund die Organisation des regionalen Eisenbahnverkehrs an die Bundesländer und stellte entsprechende Finanzmittel bereit. Damit war es auch möglich, neues Zugmaterial anzukaufen, was bis heute als sichtbares Zeichen einer neuen Struktur im Bahnverkehr wahrgenommen wird. Dieses vermeintlich positive Bild trügt allerdings.
Die Ausschreibung von Verkehren führte zu der bizarren Situation, dass sich Tochterfirmen europäischer Staatsbahnen einen Wettbewerb lieferten. Während zu Beginn des Ausschreibungswettbewerbs noch satte Gewinne lockten, wurden gewonnene Verkehre spätestens in der zweiten Runde der Ausschreibungen Anfang der 2000er-Jahre zur Investitionsfalle. Mit Abellio und Keolis gingen in Deutschland Tochterfirmen zweier Staatsbahnen – nämlich aus den Niederlanden (NS) aus und Frankreich (SNCF) – pleite. Offenbar waren die Eigentümer*innen nicht länger bereit, verlustreiche Geschäfte im Ausland weiter mit öffentlichen Mitteln zu subventionieren. Die öffentlichen Aufgabenträger in Deutschland selbst mussten deshalb in vier deutschen Bundesländern tief in die öffentlichen Kassen greifen. Mit einem dreistelligen Millionenbetrag wurde mittels Not- und Neuvergaben sowie Nachverhandlungen ein Zusammenbruch der zahlreichen Verkehre verhindert.
Pro Ausschreibung gibt es heute durchschnittlich nur noch 1,7 Angebote. Der Wettbewerb funktioniert also nicht. Woran liegt das? Ein Grund sind die Vorgaben der derzeit 27 Aufgabenträger aus 16 Bundesländern. Diese sind notwendig, um die Qualität der Verkehre zu sichern. Sie umfassen im betrieblichen Bereich die Fahrpläne, die Ausstattung der Fahrzeuge und die Ticketpreise. Im Personalbereich werden neben Tarifstandards nun auch immer mehr die Anzahl des Personals sowie Ausbildungsquoten vorgegeben. Gerade im Personalbereich wird der Fachkräftemangel nämlich zum kaum kalkulierbaren Risiko jeder Betriebsaufnahme bei einem Betreiberwechsel oder während der Vertragslaufzeit durch Anstieg der Fluktuation.
Die Unwägbarkeiten im Bereich der mittlerweile völlig überlasteten Eisenbahninfrastruktur führen in ganz Deutschland zu Problemen. Verantwortlich dafür ist die nicht abgestimmte Entwicklung der Verkehrsleistungen und mangelhafter Ausbau der Infrastruktur. Bei dichten Zugfolgen und knappen Wendezeiten wirken sich die häufigen Verspätungen auf ganze Zugnetze aus. Bestellerorganisationen reagieren darauf mit Pönalen in Millionenhöhe, die von den Eisenbahnen zu bezahlen sind – selbst wenn die Ursachen woanders liegen. Starre Verträge, mit einer Laufzeit von durchschnittlich zwölf Jahren und mehrjähriger Vorlaufzeit beinhalten kaum planbare Risiken. Durch den Unterbietungswettbewerb gingen die Unternehmen zusätzlich hohe Risiken ein, um Verkehrsleistungen zu gewinnen. Dass sie damit auch langfristige Verlustgeschäfte unterzeichneten, war vielen Verantwortlichen wohl nicht bewusst.
Derzeit wird in aktuellen Berichten trotzdem das Lied vom erfolgreichen Wettbewerb gesungen. Die Deutsche Bahn ist mit der DB Regio AG und deren Tochtergesellschaften nur noch 58,5 % der regionalen Eisenbahnverkehre verantwortlich. Der Wettbewerb von Eisenbahnen im Staatsbesitz, die mit öffentlichen Mitteln in jeweils anderen EU-Staaten um Marktanteile kämpfen, geht am Sinn und Zweck der Investition öffentlicher Mittel völlig vorbei. In Deutschland haben solche Unternehmen einen Marktanteil von rund 20 Prozent.
Hinzu gerechnet werden müssen ebenfalls Eisenbahnen in regionalem oder kommunalem öffentlichem Eigentum. Diese verkehren zumeist nur auf Strecken in ihrem Besitz und beteiligen sich dann an Ausschreibungen, wenn es um das eigene Bediengebiet geht. Damit die Statistiken besser aussehen, werden auch sie zu den Wettbewerbsbahnen gezählt. Immerhin haben solche Bahnen einen Marktanteil von rund elf Prozent. Echte Wettbewerbsbahnen – also Unternehmen, die mit privatem Kapital ausgestattet sind – bilden mit derzeit rund einem Zehntel des Verkehrsaufkommens das Schlusslicht.
Es ist unklar, wie hoch die rein administrativen Kosten des Ausschreibungswettbewerbs in Deutschland sind. Doch durch die immer detaillierten Vergabeverfahren entsteht ein Aufwand, der hohe Summen aus der Verkehrsleistung in die administrative Steuerung – auf die Seite der Aufgabenträger, aber auch der Unternehmen – verlagert. Zahlreiche Unternehmensberater*innen und Jurist*innen verdienen dabei kräftig mit. Teure Klageverfahren vor Vergabekammern und Gerichten finden regelmäßig statt.
Ohne einen leistungsfähigen Eisenbahnregionalverkehr sind die wichtigen Klimaziele im Verkehrssektor nicht zu erreichen. Eine gute Alternative zu den bisherigen Wettbewerbsvergaben in Deutschland könnten die nach wie vor zulässigen Direktvergaben sein, denn sie erheben nicht den Wettbewerb zum gefährlichen Selbstzweck, sondern stellen ohne große Reibungsverluste und Unwägbarkeiten die flächendeckende Verfügbarkeit und Verlässlichkeit der Eisenbahn in den Mittelpunkt.
Die Erfahrungen aus 28 Jahren Wettbewerb zeigt deutlich, dass die so oft behauptete Erfolgsgeschichte des Wettbewerbs im deutschen SPNV, der zu besserer Qualität und billigeren Preisen führen sollte, eben doch nur ein schlechtes Märchen ist.
Dieser Text basiert auf einer Analyse von Dirk Schlömer, Vorstand von mobifair e.V. Deutschland – Verein fairer Wettbewerb in der Verkehrswirtschaft.